Und dann höre ich es. Es kratzt aus der Ferne an meinem Bewusstsein und durchdringt nach und nach jede Faser meines Körpers. Er weiß und handelt. Das Geräusch wird lauter. Meine Hand schlägt die Decke weg. Die Kälte. Das Gewicht auf meinen Füßen. Das Geräusch wird dringlicher. Ich tapere durch das Zimmer – das Geräusch ist überall. Was ich höre, ist die Klingel, ein für Senioren im häuslichen Bereich konzipiertes Pflegeruf-Set, das mit einer „angenehmen Ruftonmelodie“ beworben wird, die eigens von „einem Musiker komponiert“ wurde, um Pflegende nicht durch „laute, Stress auslösende Alarm-Töne“ zu erschrecken.
Ich verfluche den Musiker. Die heuchlerische Fröhlichkeit der „Ruftonmelodie“ kann das Alarmierende, das in ihr mitschwingt, die direkte Aufforderung, die sie herausschreit, die Last der Verantwortung und die Verzweiflung auf der anderen Seite der Klingel nicht übertünchen. Es ist eine dumpfe Verzweiflung, die mit der Melodie in den Raum sickert. Ich sehe meine Großmutter vor mir, wie sie im Bett liegt und stöhnend, nach Luft schnappend auf den Knopf der Klingel drückt. Einmal und dann wieder und wieder, wenn nicht unmittelbar Schritte folgen. Ich sehe, wie mit jedem Klingeln ihre Verzweiflung wächst, ihre Angst, es könnte niemand da sein.
Das Bewusstsein, ihrem Körper ausgeliefert zu sein, wird in diesem Moment zu ihrer einzigen Wahrheit und die Dringlichkeit bekommt etwas Absolutes. Jegliche körperliche Schmach müsste sie wissentlich und doch handlungsunfähig ertragen. Das Gefühl der Machtlosigkeit wird zu Panik. Und so klingelt Ruth weiter, diese intelligente, belesene Frau, erfahrene Psychiaterin, Mutter von vier Kindern und selbst einst Pflegende ihrer eigenen Großmutter, Mutter und Schwiegermutter. Sie klingelt, bis sie endlich die erlösenden Schritte hört. Sobald die Klingel endlich ihren gewünschten Effekt zeigt, strahlt meine Großmutter eine derart tiefe Erleichterung und Dankbarkeit aus, dass sie den breit lächelnden 30 Jahre jüngeren Rentner_innen-Models auf den Werbefotos der Pflegeruf-Sets ernsthafte Konkurrenz macht. Manchmal zumindest.
Von Zeit zu Zeit aber sitzt sie auch nur erwartungsvoll, geradezu ungeduldig auf ihrem elektrischen Ohrensessel, dem „Thron“, wie er von der Familie halb ironisch, halb ehrfürchtig genannt wird. Dann sitzt sie dort und bittet freundlich, aber bestimmt um ihren Assam-Tee mit zwei Süßstoffpastillen und einem Schluck fettarmer Milch oder um die Zeitung – „nein, nicht die HAZ, die Süddeutsche“. Die Verlockung der Klingel ist groß: Irgendjemand ist immer nur einen Knopfdruck entfernt. Die Hemmschwelle zu klingeln, sinkt zusätzlich, wenn dieser jemand kein leicht genervtes Familienmitglied ist, sondern die Pflegekraft, die man doch genau dafür bezahlt – in diesem Fall Agnes. Das Klingeln erhält damit seine volle Legitimation und auch Ruth, Jahrgang 1929 aus gutbürgerlichem Hause, scheint sich erstaunlich wohl mit der Idee zu fühlen, über abrufbares Personal zu verfügen. Für sie ist es kein negativ konnotiertes Zeichen ihrer Privilegien – im Gegenteil: Es werde ihrem Status eher gerecht. Auch dass das Personal aus Polen kommt, ist schon längst Normalität: Seit 25 Jahren kümmert sich Iwona um den Haushalt.
Das hohe Maß an Agnes’ Geduld liegt laut der Agentur, die sie an unsere Familie vermittelte, an der „speziellen Mentalität der Osteuropäerinnen“ und ihrer „polnischen Freundlichkeit“. Die gezielte Nutzung von Stereotypen wird zum wirksamen Marketing. Agnes sei aufgrund ihrer Herkunft und ihres Geschlechts für die Sorgearbeit geradezu prädestiniert. Das ökonomische Ungleichgewicht zwischen Deutschland und Polen wird dabei außer Acht gelassen, ebenso wie die emotionalen und physischen Anstrengungen der Arbeit. Die Klingel kann jederzeit ertönen und Agnes muss reagieren – mal in der Rolle der Hausbediensteten, mal als Rentnerin vor der Unberechenbarkeit des Körpers. Aber immer zur selben Melodie.